Interviews

Essen ist keine Vernunftveranstaltung

Jörg Reuter entwickelt Konzepte, die Umweltschutz und Ernährung versöhnen. Dabei schaut er sowohl in die Zukunft und überlegt, welche Rolle Laborfleisch in 20 Jahren spielen könnte, als auch in die Vergangenheit, und macht Anleihen vom Landbau unserer Urgroßväter. Im Interview erklärt er, warum die Ernährungswende und die Agrarwende sich nicht trennen lassen und welchen Beitrag die Gastronomie leisten kann.


Gastivo Magazin: Lieber Jörg, in deiner Arbeit spielt der Begriff Planetary Health Diet eine zentrale Rolle. Wie hilfreich ist so ein Ernährungsmodell in der Praxis?

Jörg Reuter: Wir Deutschen sind da völlig verrückt. Wenn man heute Planetary Health Diet googelt, bekommt man einen Teller gezeigt, wo exakt 30 Gramm Fleisch, 15 Gramm Ei und 300 Gramm Gemüse pro Tag drauf sind. Aber das ist nicht Sinn der Sache. Die über 30 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die das Modell entwickelt haben – die sogenannte EAT-Lancet Kommission –, haben allgemeine Empfehlungen getroffen. Erstens, weniger tierische Proteine zu essen; zweitens, unsere Landwirtschaft nachhaltiger zu machen; und drittens, den heutigen Food-Waste zu halbieren, vom Erzeuger bis zum Endverbraucher. Ich sehe diese Empfehlungen mehr als Denkanstoß.

Wir müssen also nicht alle Veganer werden?
Das ist ein wichtiges Beispiel: Natürlich geht es darum, tierische Proteine zu reduzieren. Aber man driftet schnell ab, dass Planetary Health Diet gleichbedeutend mit plantbased ist. Wir werden tierische Proteine nie ganz aus der Ernährung ausschließen können. Daher müssen wir uns darüber unterhalten, wo die Verbleibenden eigentlich herkommen.

Woher denn?

Da gibt es die zirkuläre Tierhaltung: Die Idee ist, dass wir nur so viele Tiere halten, wie wir mit Futter ernähren können, das nicht für die menschliche Ernährung zur Verfügung steht. Sprich, kein Getreide mehr für Tiere anzubauen, sehr wohl aber zum Beispiel Hafer anzubauen, der vielleicht mit 25 Prozent in die Hafermilch wandert und der Rest – Spelze, Stänge, Stärkebestandteile – in die Tiernahrung.

Nutztiere als Restefresser?

Absolut, Gras zählt genauso dazu. Wir können versuchen, über die Wiese zu gehen und Gras abzubeißen, aber uns fehlen die Mikroben und das Magensystem, um daraus ernsthaft Nährstoffe zu ziehen. Deswegen hat der oft beschimpfte Klimakiller Rind eben doch seine Berechtigung. Wenn es fast nur mit Gras gefüttert wird, ist es eine nachhaltige Produktion.

Das Beispiel zeigt, dass es bei der Planetary Health Diet nicht nur darum geht, was wir essen, sondern auch darum, wo es herkommt. Kann man Ernährungswende und Agrarwende überhaupt trennen?

Die Agrar- und Ernährungswende müssen Hand in Hand gehen.

Für dich gehören neben der zirkulären Tierhaltung genauso die regenerative, ökologische sowie die zelluläre Landwirtschaft und Smart Proteins dazu – sozusagen das Dreieck der zukunftsfähigen Lebensmittelproduktion. Was steckt dahinter?

Hintergrund ist, dass mir diese Klein-Klein-Diskussion, die oftmals in der Öffentlichkeit stattfindet, total auf die Nerven geht. Wenn Start-ups pauschal sagen: Wären die Rinder ein Land, wäre es der größte CO2-Emittent. Umgekehrt propagiert die herkömmliche Milchindustrie, Rinder seien super, weil Grasland CO2 speichern kann. Das sind alles Halbwahrheiten. Ich habe mich gefragt, was denn das große Bild ist, wo wir hin müssen – und das besteht für mich aus diesen drei Elementen.
 

Was meinst du mit den Begriffen regenerative und zelluläre Landwirtschaft?

Der Begriff der regenerativen Landwirtschaft ist noch etwas schwammig. Ich berufe mich gerne auf die Definition des NABU und der Boston Consulting Group. Ihnen zufolge ist es ein Ansatz, bei dem man sich auf die Gesundheit von Böden und Pflanzen konzentriert, um die Resilienz zu stärken, Kohlenstoff- und Wasserkreisläufe zu schonen und die Biodiversität zu fördern. Die zelluläre Landwirtschaft produziert aus Zellen oder Mikroben Lebensmittel. Das heißt, ich gebe zum Beispiel bei den kultivierten Fleischverfahren eine Fleischzelle in ein Nährmedium und lasse es dort wachsen. Wir werden damit niemals 100 Prozent des Fleischkonsums abdecken können, aber vielleicht in 20 Jahren schon 20 Prozent. Man kann damit auch Käse herstellen, mithilfe der sogenannten Präzisionsfermentation. Da bringt man Hefezellen bei, Milchproteine zu generieren. Diese Verfahren stehen alle noch ganz am Anfang, das darf man nicht vergessen. Aber ich finde, man ist gut beraten, diese Herstellungsprozesse als gleichberechtigte Form der Lebensmittelproduktion zu etablieren. 

Was hältst du von anderen Innovationen wie Indoor-Farming oder Insekten als Smart Proteins?

Das sind beides schwierige Themen. Bei Insekten sehe ich keine Chance, dass sich das in Europa durchsetzt, weil wir es kulturell mit Ekel und Grusel verbinden. Alle Projekte in diese Richtung hatten keinen Erfolg. Bei Vertical Farming ist es vor allem eine Energiefrage, und die ist nicht einfach zu lösen. Sehr smart finde ich aber die Idee von vGreens, Erdbeeren im Vertical Farming anzubauen. Über das Licht können sie steuern, wie süß die Früchte schmecken. Bei so einer saisonalen Frucht gibt es auch eine entsprechende Zahlungsbereitschaft.

Welche Rolle kann nun die Gastronomie in der Agrar- und Ernährungswende spielen?

Die Trendforscherin Hanni Rützler hat vor ein paar Jahren von der kopernikanischen Wende gesprochen: Das Gemüse rückt in die Tellermitte, das Fleisch nach außen. So, wie Kopernikus erkannt hat, dass sich die Erde um die Sonne dreht, nicht andersherum. Der Gastronomie kommt die Aufgabe zu, daraus leckere Gerichte zu machen.
 

JÖRG REUTER UND SEINE PROJEKTE

Als ausgebildeter Agraringenieur beschäftigt sich Jörg Reuter seit vielen Jahren mit der Frage, wie wir unsere Ernährung und Lebensmittelproduktion zukunftsfähig gestalten können. Im Unternehmen Artprojekt Nature & Nutrition hat er unter anderem aus der Traditionsfischerei das Naturgut Köllnitz entwickelt, wo nachhaltige Landwirtschaft und Tierhaltung mit kulinarischem Genuss verschmelzen.

Zudem ist Reuter der Kopf hinter dem Food Campus Berlin. Dort soll auf über 40.000 Quadratmetern eine Denkfabrik für die Ernährungs- und Agrarwende entstehen mit Flächen für Büros, Forschung und Wissenschaft, Events, Showrooms und urbaner Lebensmittelproduktion. Der Spatenstich ist für das Frühjahr 2024 geplant. Über die Website und auf zahlreichen Online-Events bringt der digitale Food Campus schon jetzt Akteure der Lebensmittelbranche zusammen.


Bevor Jörg Reuter zum Unternehmensberater wurde, arbeitete er auf Bauernhöfen. Als er die Preise von Bio-Möhren auf dem Wochenmarkt rechtfertigen sollte, wurde ihm klar, dass es bessere Strategien braucht, um die Menschen vom notwendigen Wandel zu überzeugen. Vom Labor bis zum Marketing soll auf dem Food Campus Berlin an der Agrar- und Ernährungswende getüftelt werden.
 

Wie ist es mit den anderen Empfehlungen der Planetary Health Diet: Wie lassen die sich auf die Gastronomie übertragen?

Etwas zu verbannen, ist nicht der richtige Weg. Man kann zum Beispiel schauen: Welchen Anteil hatte Fleisch dieses Jahr am Wareneinsatz und können wir das über die nächsten zwei Jahre halbieren? Es ist total wichtig, die Gäste mitzunehmen und das nicht mit der Brechstange zu machen.

Müssen wir dazu die kulinarische Vielfalt fernab von Fleisch und Fisch neu entdecken?

Mit Artprojekt haben wir einmal einen Möhren-Cook-Tank gemacht, um die unentdeckten Seiten der Möhre zu erkunden. Elf Köche haben je zwei Gänge konzipiert, die die Möhre in den Mittelpunkt stellen. Wir hatten also 22 Gänge mit der Möhre als Hero und das war zu keiner Sekunde langweilig. Solche Sachen muss man sich noch viel mehr trauen.

Ist das ein Weg für die Gastronomie, dieses Narrativ von Verzicht aufzulösen und das Thema mit Genuss und Geschmack zu verknüpfen?

Auf jeden Fall. Essen ist keine Vernunftveranstaltung. Essen ist total emotional, Essen ist Geselligkeit. Es ist wichtig, dass das, was auf dem Teller ist, immer als Bereicherung empfunden wird und nicht als Ersatz.

Wie sieht es in Sachen Lieferkette aus: Wie kann sich die Gastronomie hier an der Agrarwende beteiligen?

Das ist gar nicht so einfach. Wer Fleisch aus zirkulärer Tierhaltung sucht, wird wahnsinnige Mühe haben, dieses zu finden. Der Großhändler wird nicht verstehen, um was es geht. Du kannst dir einzelne Lieferanten suchen, aber selbst dann musst du eigenständig die Logistik organisieren. Umgekehrt kann man natürlich bei seinen Großhändlern nachfragen. Wenn das viele Gastronominnen und Gastronomen immer wieder tun, müssten die Großhändler reagieren.

Ist es mit Gemüse etwas einfacher?

Ja, es gibt viele ökologische Flächen, und viele Großhändler haben eigene Bio-Marken. Auch Gemüse aus regenerativer Landwirtschaft kommt mehr, und vor allem schneller als zirkuläre Tierhaltung. Denn bei der Tierhaltung müssen wir in längeren Zeiträumen denken. Wenn jemand einen Schweinestall baut, zahlt er den über 25 Jahre ab. Das heißt, er kann im zwölften Jahr nicht einfach aufhören. Als Gastronom kann man aber zum Beispiel mit Fleisch vom Weiderind und Bio-Gemüse anfangen. Wenn man dann noch auf die Saison achtet, kommt man auch preislich gut hin.

Welche Aufgaben hat die Gastronomie hier in Sachen Kommunikation?

Du kannst nicht etwas in der Küche machen und es im Gastraum nicht kommunizieren. Denn es wird immer aufwendiger und ein bisschen teurer sein. Das heißt, du musst die Tischgäste über Storytelling mitnehmen. Zum Beispiel, indem du vom Bauern oder vom Produkt erzählst. Das ist etwas anderes als Transparenz, das darf man nicht verwechseln! Reine Transparenz bedeutet: Das kommt aus 100 Kilometern Entfernung. Storytelling bedeutet: Das kommt vom Bauern Sowieso aus Storkow, der hat 20 Mutterkühe und die sind das ganze Jahr draußen.
 

Ein zentrales Thema in der Lebensmittelbranche ist die Zahlungsbereitschaft. Immer wieder spricht man von wahren Preisen. Kann die Gastronomie dem irgendwie näherkommen?

Die Umweltkosten, die die Lebensmittelproduktion verursacht, zahlen wir ohnehin schon über die Steuer und merken es nicht. Perspektivisch müssen wir dahin kommen, dass sie sichtbar werden. Aber ich halte es für ausgeschlossen, dass irgendein einzelner Gastronom wahre Preise verlangen kann. Das wird nur über die Politik funktionieren.

Auf dem Naturgut Köllnitz, das ihr mit Artprojekt konzipiert habt, setzt ihr eure Ideen der Ernährungs- und Agrarwende um. Erzähl uns davon.

Wir haben in Storkow mitten in Brandenburg eine alte Fischerei aus dem 13. Jahrhundert mit Hotel und Restaurant übernommen und gestalten sie seit zwei Jahren zu einem Naturgut um – unter der Überschrift Bauer x Fischer x Koch, was bedeutet, dass diese drei Handwerke Hand in Hand zusammenarbeiten. Neben der Fischerei haben wir dort 130 Hektar Biolandwirtschaft für Gemüse und Obst, eine Mutterkuhherde und Zweinutzungshühner. Wir verstehen das Ganze als kulinarische Landwirtschaft: Wir entwickeln sie rückwärts vom Teller. Welches Gemüse braucht die Küche? Was ist die beste Rinderrasse mit dem schönsten Fleisch? Mittelfristig wollen wir 90 Prozent der Lebensmittel aus dem eigenen Betrieb erwirtschaften. Wir bieten ein Hof-Menü zum Teilen an, das sowohl für Fleischesser als auch Vegetarier geeignet ist. Den Bon konnten wir seit der Umstellung deutlich erhöhen, vor allem, weil die Menschen jetzt länger verweilen.

Was ist für euch die größte Herausforderung mit so einem Konzept?

Wir müssen die Stammgäste mitnehmen, die seit zehn Jahren kommen und gerne Zander mit Bratkartoffeln essen. Wir sind nicht mitten in Berlin, wo es eine große Experimentierfreude gibt. Vielleicht waren wir ein bisschen zu schnell mit der Umstellung. Wenn ich es nochmal machen würde, würde ich das Hof-Menü anbieten, aber die sonstige Karte erst einmal weitgehend beibehalten. Wir haben zwar viele neue Gäste gewonnen, zum Beispiel aus Berlin. Aber dafür haben wir auch ein paar Gäste aus der direkten Umgebung verloren. Trotzdem denke ich: Wenn wir es dort schaffen, dann schafft man es überall. Wichtig ist, dass das Team dahintersteht.

Interview: Emmelie Ödén

Essen ist keine Vernunftveranstaltung
Erfahre im Interview mit Jörg Reuter, wie die Gastronomie zur Ernährungs- und Agrarwende beitragen kann. Von Planetary Health Diet bis zur zirkulären Tierhaltung - entdecke neue Perspektiven für eine nachhaltige Ernährung.